Dieser Beitrag ist erstmals im November 2016 in 4-Seasons.ch erschienen.
51Meter pro Sekunde. Das sind 186 Stundenkilometer. Und es ist die höchste Windgeschwindigkeit, die jemals im Fischerstädtchen Ísafjörður gemessen wurde. Wann? Jetzt!
Gerade jetzt, da eine Gruppe von Transa Mitarbeitern und Freunden für Skitouren nach Island gekommen ist, fegt ein Rekord-Orkan über die Westfjorde hinweg. Bei diesem Sturm ist leider nicht daran zu denken, wie geplant zum Sail&Ski in die Gletscherfjorde auszulaufen, den abgelegensten Teil der Westfjorde. Vielmehr hat die Crew des Segelschiffes alle Hände voll damit zu tun, den Zweimaster unbeschadet im Hafen vertaut zu halten.
Wir, die vorerst verhinderten Passagiere, übernachten nicht an Bord, sondern im Hotel Ísafjörður. Jürg, seines Zeichens Chef der Alpinschule Höhenfieber und Organisator dieser Reise, wahrt den Humor: »Auf der Hütte geht der Bergführer zum Wecken rum. Aber wie macht man das im Hotel? Sollen wir eine WhatsApp-Gruppe gründen?«
Rückblick: April 2014
Damals war ich schon einmal zum Skitourengehen in den Westfjorden. Auch damals begann es stürmisch mit Schneeschauern. Doch alsbald legte sich der Wind und hinterließ einen blankgeputzten Himmel für eine Skiwoche vom Allerfeinsten. Mit Traumtouren in perfektem Gelände. Mit Abenteuer-Feeling in einer menschenleeren Landschaft. Und mit Firnabfahrten bis direkt ans Meer. Wird auch der Transa Trip eine Wendung zum Guten nehmen?
Leifur, unser isländischer Guide, erweist sich gleich am ersten Tag als Improviastions-Talent. Er findet eine Skitour an der wohl einzigen windgeschützten Bergflanke von ganz Island. Danach entspannen wir uns in den »heitir pottar«, den heißen Töpfen des örtlichen Schwimmbads. Im 38 Grad warmen Sprudelbecken erzählt ein Einheimischer, dass am Abend in Ísafjörður einer der bekanntesten Rockmusiker Islands auftreten wird. Dem Unwetter quasi zum Trotz.
Stürmischer Sound von Mugison
Also wagen wir uns nach dem Nachtessen vor die Hoteltür, kämpfen uns bis zum Kulturzentrum vor und lassen uns den stürmischen Sound von Mugison um die Ohren wehen. »Ohne den Orkan wären wir nicht in den Genuss dieses Konzerts gekommen«, freut sich Saskia, die Marketingchefin von Transa, über das Überraschungsgeschenk von Plan B. Oder war es Plan C? Schwer zu sagen, wenn man so oft umdisponiert.
Auf einer Vulkaninsel knapp unterm Polarkreis nehmen die Naturgewalten traditionell wenig Rücksicht auf menschliche Vorhaben und Zeitpläne. Dem begegnen die Nachfahren der Wikinger mit geradezu südländischer Gelassenheit. Und mit unerschütterlicher Zuversicht. Das inoffizielle Lebensmotto der 330.000 Isländer lautet: »Þetta reddast«. Wird schon klappen.
Schönwetterfenster
Neuer Tag, neuer Anlauf zu einer Skitour. Ein Schönwetterfenster ist prognostiziert. »Braucht jemand Plastiksäcke, um das Gepäck wasserdicht im Rucksack zu verstauen?«, fragt Jürg beim Zmorge. »Sind das Drei-Lagen-Müllsäcke?«, scherzt einer aus der Gruppe und präsentiert seinen federleichten Sea-to-Summit-Packsack. In Sachen Ausrüstung macht den Transianern nun mal keiner was vor. Myriam, die stellvertretende Filialleiterin aus Zürich, schenkt Leifur sogar ihre isländische Tourenkarte, die sie bei Transa Books besorgt hatte. Genau diese Karte hatte Leifur vergeblich in den Buchläden von Reykjavík gesucht.
Leifur fährt die fröhliche Meute mit dem spontan gemieteten Bus in ein Nachbartal, das zahllose Tourenmöglichkeiten bietet. Als sich die Gletscher der Eiszeit zurückzogen, hinterließen sie im äußersten Nordwesten Islands zahlreiche Täler und Meeresarme mit gleichmäßig abgeschabten Bergflanken: voilá, die Westfjorde. »Das Gelände ist megaguet zum Skitourengehen«, staunt Imke. »Nicht zu steil, nicht zu flach. Und es gibt unzählige Möglichkeiten dank der weiten und baumfreien Hänge.« Hier findet jeder eine eigene Spur.
Dann halt Plan C …
Als wir knapp 600 Höhenmeter dieses perfekten Geländes erklommen haben, schließt sich das Schönwetterfenster. Whiteout. Also Plan C: Abfahrt und wieder mal ab ins Schwimmbad. Das Nachtessen nehmen wir im Hafen auf unserem Schiff ein. Köchin Guðny tischt unfassbar zarte und würzige Lammhachsen auf. Wäre da nur nicht die Schräglage des Schiffs! Der wiedererstarkte Wind fährt mit solcher Wucht in die Takelage, dass die Teller auf dem Tisch herumrutschen. »Lasst uns den Schwerpunkt der Weinflaschen tiefer legen!«, gibt Jürg als Devise aus – und schenkt den Syrah aus. Wir müssen über unseren Dekadenz-Anflug lachen. Spielte nicht auf der Titanic die Kapelle bis zum bitteren Ende? Um so erleichterter sind wir, nach dem Dessert wieder festen Boden unter den Füssen zu spüren. Das Hotel als sicherer Hafen.
Am dritten Tag ist der Orkan endlich abgezogen, die »Donna Wood« kann auslaufen. Der 1918 in Dänemark aus Eichenholz gebaute Zweimaster diente zunächst als Leuchtschiff. 1990 wurde er zum Expeditionsschiff umgebaut, mit Zweierkabinen, Zentralheizung und heißen Duschen. Bis zu vier Meter hoch bauen sich die Wellen auf bei der zweistündigen Überfahrt in die Gletscherfjorde. Dem Schiff können sie nichts anhaben. Wohl aber manchem Schweizer Magen … Wie scherzte Kapitän Alfreð doch bei der Einweisung für kleinere und größere Notfälle: »Bitte nicht zu weit über die Reling hängen! Und immer die Windrichtung beachten!«
Keine Menschenseele
Wie eine blaue Hand erstrecken sich die Gletscherfjorde in das nun schneeweiße Naturreservat Hornstrandir. Einst gab es hier eine Walfabrik, in der vor allem Lampenöl hergestellt wurde. Einige Familien lebten in entlegenen Höfen von dem, was das karge Land und die raue See hergaben: Fisch, Milch, Lamm, Vogeleier … Als Ende der 1950er-Jahre die Heringsschwärme ausblieben, verließen die Menschen diesen äußersten Teil der Westfjorde. Und während heutzutage manche Gegenden Islands von Skitourengehern und Heliskiern fast schon überrannt werden, treffen Wintersportler in den Westfjorden zumeist keine Menschenseele. Elfen hingegen soll es hier um so zahlreicher geben – eine Vorstellung, die sehr gut in diese verwunschene Landschaft passt.
Gerade haben wir Guðnys phantastisches Fischmenü (mit Bacalao auf isländische Art) verspeist, da ruft jemand vom Außendeck: »Polarlichter!« Grün, gelb, violett und rot flackert der Himmel. Manch einer macht innerlich einen Haken an seiner Bucketlist für diesen Island-Trip. In dieser Nacht läuft wirklich alles nach Plan A.
Windstille, hurra! Dafür tröpfelt es leicht, als wir am nächsten Morgen mit dem Schlauchboot zu unserer ersten Skitour in den Gletscherfjorden an Land gebracht werden. Nach dem Wärmeeinbruch der vergangenen Tage befürchteten wir Faulschnee, doch der Deckel trägt. Es war ein sehr schneereicher Winter in Island, mit einem sehr stabilen Schneedecken-Aufbau. Bis auf 300 Meter über dem Meer liegt vereinzelt Seetang auf dem Harsch, heraufgeweht vom Orkan. »Eigentlich sollten wir rückwärts gehen, weil die Aussicht hinter uns so schön ist«, meint Karin. Auf dem 644 Meter hohen Bæjardalsfjall reißen dann alle glücklich die Hände in die Höhe – der erste Gipfel! Wenn jetzt auch noch die Wolkendecke aufreißen würde …
Strahlende Sonne – damals
Rückblick: Zwei Jahre zuvor haben wir genau denselben Berg bestiegen. Bei strahlender Sonne blickten wir nach Norden aufs offene Meer. Der Frühjahrsschnee, die Fjorde – es war eine Augenweide in Weiß und Blau. Gerade rechtzeitig zur Abfahrt firnte es auf. Mit dem letzten Schwung spritzten wir Schnee auf die schwarzen Basaltkiesel am Strand. Megaschön! So schön, dass wir gleich noch mal aufstiegen. Die Tage sind ja schon lang im isländischen April, mit 16 Stunden Sonnenlicht.
Von anhaltendem Sonnenschein kann die Transa Truppe heute nur träumen. Dafür kommt sie am Nachmittag in den Genuss eines Regenbogens auf Skitour. »Das ist doch mal was Neues«, sagt Karin amüsiert. Das Glas ist eben immer halb voll. Während wir mehrere Hügelketten überwinden und 1500 Höhenmeter sammeln, schippert Alfreð die »Donna Wood« außen herum in den nächsten Fjord. Am letzten Gipfel – der eher ein breiter Bergrücken ist – umarmen sich alle freudestrahlend, trotz des einsetzenden Nieselregens. Welche Magie liegt bloß in dieser Landschaft? Dass sie Menschen trotz widriger Umstände derart glücklich macht?
Und dann reißt der Himmel tatsächlich kurz auf. Ein Sonnenstrahl trifft unser Segelboot, das tief unten im Fjord auf uns wartet. Nach der überraschend guten Firnabfahrt sammeln wir am Strand Miesmuscheln – wobei uns Jürgs Müllsäcke gute Dienste leisten. Guðny bereitet die Muscheln noch am selben Abend zu. Dazu ein Gläschen Chablis. Es gibt also überhaupt keinen Grund für eine Meuterei auf der »Donna Wood«. Noch ein paar Runden Jassen, dann fallen alle müde in die Kojen. »Ich hab mich schon so an das leichte Schaukeln gewöhnt«, sagt Gabi. »Das wird mir zu Hause im Bett fehlen.«
Plan A für den nächsten Tag lautet: anlanden und eine Skitour zum benachbarten Rabenfjord unternehmen. Allerdings: Schon morgens weht der Wind mit sieben Beaufort aus Südwest. Die Wellen sind zu hoch, als dass wir mit dem Dingi übersetzen könnten. Alfreð versucht – als Plan B – im Rabenfjord selbst anzulegen. Keine Chance.
Gipfelglück, komm zurück!
Rückblick: April 2014. Bei bewölktem Himmel, aber ruhigem Wasser gingen wir im hintersten Rabenfjord an Land. Ziel unserer Skitour war der 736 Meter hohe Bláfell. Das Weiß-Blau der Vortage war abwechslungsreichen Shades of Grey gewichen. Immer wieder brach die Sonne durch die Wolkendecke und warf Schlaglichter auf Berge und Buchten. An zwei Steilstellen im Aufstieg waren wir froh um die Harscheisen. Oben dann reichte der Blick hinüber zum fast 1000 Meter hohen Drangajökull. Islands fünftgrößter Gletscher liegt wie eine Eishaube auf den Bergen der Westfjorde. Je steiler die Abfahrt, desto besser war der Firn. Und wieder reichte der Schnee fast bis ans Wasser.
Beim Thor! Oder wer auch immer hier oben fürs Wetter verantwortlich ist … Die Transa Truppe muss sich erneut von Plan A und B verabschieden. Alfreð hat beschlossen, noch am selben Tag zurück in den Hafen von Ísafjörður zu fahren, denn der Wind soll über Nacht abermals zulegen. Dann eben Plan C: eine kleine Legenden-Lehrstunde. Denn auf der Rückfahrt passieren wir das einsame Grab von Fjalla-Eyvindur. Als »Eyvindur aus den Bergen« im 18. Jahrhundert wegen Diebstahls verurteilt wurde, floh er ins menschenfeindliche Hochland. 20 Jahre lang schlug er sich dort durch, teils in Gesellschaft seiner mitschuldigen Frau. Schließlich wurden sie begnadigt und durften am Rabenfjord ihren Lebensabend verbringen. Heute genießt der einst berüchtigte Outlaw in Island das Ansehen eines Volkshelden.
Und während die »Donna Wood« tapfer gegen die Wellen stampft, machen wir mit Plan D weiter: lustiges Tiere-Raten mit Leifur. Viele Vogelarten wie etwa die putzigen Papageitaucher sind noch im Süden. Aber wir sehen Eissturmvögel, Eismöwen, Lummen, Mantelmöwen und jede Menge Eiderenten. »Deren Daunen werden hier systematisch geerntet und als Füllmaterial etwa für Duvets verkauft«, erklärt unser Guide. Auch der ein oder andere Seehund steckt neugierig seinen runden Kopf aus dem Wasser. Leider entdecken wir in der unruhigen See keine Wale – anders als im April 2014, als sich uns ein Buckelwal zeigte. »Berühmt sind die Westfjorde auch für ihre große Polarfuchs-Population«, ergänzt Leifur.
Ein raues Pflaster
Der 50-Jährige ist nicht nur einer der erfahrensten Bergführer Islands. Leifur war auch mehrfach an beiden Polen und hat die Seven Summits bestiegen, den Mount Everest als erster Isländer über die schwierigere Nordseite. »Island ist ein raues Pflaster. Wer die hiesigen Verhältnisse gewohnt ist, den kann nichts mehr schrecken«, sagt er schmunzelnd und fast ein bisschen entschuldigend. Gabi aber sieht es positiv: »Bei uns zu Hause ist immer alles strukturiert. Hier kann man sich auf nichts festlegen. Diese Erfahrung empfinde ich als sehr gesund. Und wir haben viel gelacht, oder? Also, ich würde wiederkommen nach Island!«
Vorschau
April 2017. Zahlreiche 4-Seasons-Leser werden in den isländischen Westfjorden ein traumhaftes Sail&Ski-Abenteuer genießen. Mit bestem Essen, tiptop Stimmung an Bord, gutem Schnee und schönem Wetter. Woher die Zuversicht? Gesetz der Wahrscheinlichkeit: Nach der Transa Tour kann es nur besser werden. Und zur Not gibt’s immer noch Plan B, C, D … Mit all den damit einhergehenden Überraschungsfreuden.