Reykjavík, Busbahnhof: Wir besteigen den allradgetriebenen Linienbus ins Hochland. Nach dreieinhalb Stunden, teils auf abenteuerlichen Schotterpisten: Ankunft in Landmannalaugar. Der Zeltplatz ist nördlicher Endpunkt von Islands beliebtestem Weitwanderweg, dem Laugavegur. In den Tümpeln bei den heißen Quellen baden Dutzende Rucksacktouristen. Nein, Landmannalaugar ist kein Ort mehr für die Einsamkeit. Am nächsten Morgen lassen wir uns von Sigurður ans Ende der Welt bringen. Zum Startpunkt unserer Trekkingtour auf dem weniger bekannten Strútsstígur.
Island, die Vulkaninsel im Nordatlantik, ist so groß wie Bayern und Baden-Württemberg zusammen, hat aber nur 320 000 Einwohner. Davon leben 80 Prozent im Großraum Reykjavík, der Rest an den Küsten. Das gesamte Hochland im Inselinneren ist so gut wie unbewohnt. Nicht einmal asphaltierte Straßen gibt es dort, nur Jeep-Pisten mit teils gefährlichen Flussfurten. Sigurður, von Hauptberuf Landwirt, chauffiert uns im betagten Allrad-Van über immer schmalere Wege, bis am Ufer des Gletscherflusses Skaftá ein Häuschen auftaucht: die Sveinstindur-Hütte, Startpunkt unserer Wanderung, die bis an die Südküste führen soll.
Zum Aufwärmen (es hat jetzt im Juli gerade mal 12 Grad) unternehmen wir eine Nachmittagstour auf den 1090 Meter hohen Sveinstindur, einen Aussichtsberg am Westrand des Vatnajökull, Islands mächtigstem Gletscher. Zwischen uns und dem endlosen Eis funkelt der fjordartige See Langisjór. Soweit das Auge reicht: bizarr geformte, teils moosbewachsene Berge aus Lava und Asche. In den Tälern mäandern Bäche. Endlose Weite, keine Menschenseele. Bis auf die angelsächsische Wandergruppe, die sich in der Sveinstindur-Hütte eingenistet hat.
Islands Hochlandhütten sind Selbstversorgerunterkünfte, unterwegs gibt es keine Einkaufsmöglichkeit, man muss also seine kompletten Essensvorräte selbst mitbringen. Wer ein festes Dach überm Schlafplatz wünscht, sollte seinen Platz im Matratzenlager vorreservieren. Wir bevorzugen die Unabhängigkeit, ziehen mit Zelt und Gaskocher los. Wildes Campieren ist in Island erlaubt, ausgenommen in Nationalparks. Trotzdem übernachten wir meist in der Nähe der Wanderhütten, die immer einen Tagesmarsch voneinander entfernt sind. So können wir die Toiletten mitbenutzen und bei Dauerregen oder Sturm in der Hütte Unterschlupf suchen. Letzteres wird allerdings nicht nötig sein: Von unseren zehn Tagen im Hochland bleiben neun – allen isländischen Wetter-Vorurteilen zum Trotz – ganz ohne Niesel, Regen oder Schnee. Reykjavík verzeichnet den trockensten Juli seit 1956.
Unsere Trekkingroute führt zunächst an der Skaftá entlang, die bald über ein Waschbrett aus Felsen rauscht. Ein mehrarmiger Nebenfluss zwingt uns erstmals, die Hosen auszuziehen und die Furtsandalen anzulegen. Zum Glück ist die Strömung schwach, und die Nadelstiche des eisigen Wassers reichen nur bis zur Wade. Weiter geht’s durch eine enge Schlucht mit Lavagebilden, die wie versteinerte Trolle erscheinen. Der Weg ist weder beschildert noch mit Pflöcken markiert. Mal ist ein Trampelpfad zu sehen, mal wären wir ohne das GPS-Gerät verloren. Durch ein Tal voller Wasserläufe und Wollgras gelangen wir nach 17 Kilometern zur nächsten Hütte, an der wir zelten. Fauchend erhitzt der Campingkocher das Wasser für die Trekkingmahlzeiten. Diese Fertiggerichte, denen die Feuchtigkeit entzogen wurde, wiegen wenig und schmecken nicht schlecht.
Schritttempo ist Seelentempo
Obwohl Julinächte in Island nicht dunkel werden, kriechen wir schon um neun in unsere Daunenschlafsäcke. Nach einem Morgenmüsli mit Wasser und Kaffeeweißer durchwandern wir die vier Kilometer lange Vulkanspalte Eldgjá. Die Farben der Gesteinsschichten reichen von Pechschwarz bis Feuerrot. Ein Wasserfall ergießt sich über den 100 Meter hohen Spaltenrand. Moos federt unsere Tritte. Die Luft riecht – einfach nur nach Luft. Beim Wandern sind die Eindrücke so viel tiefer, als wenn die Landschaft nur am Jeepfenster vorbeirauscht. Schritttempo ist Seelentempo. Mit jedem Meter nähert sich das Gemüt einem meditativen Zustand. Banale Alltagssorgen weichen existenziellen Fragen: Wie bleibe ich warm? Wie stille ich meinen Hunger? Wo finde ich Wasser? Letzteres ist leicht zu beantworten: Man kann aus nahezu jedem Bach trinken.
In Hólaskjól, einem belebten Zeltplatz an der Haupt-Hochlandpiste, können wir endlich mal wieder duschen. Sigurður hat hier unsere Fresspakete deponiert, sodass wir Proviant für die verbleibenden Tage nachfüllen. Mit fast 25 Kilo schweren Rucksäcken gehen wir die längste Etappe an. 23 Kilometer. Zunächst bremsen zwei oberschenkeltiefe Furten (Ist das kalt!). Dann stellt sich ein bemooster Hügel nach dem anderen in den Weg. Der Nacken schmerzt unter den Rucksackriemen, die Beine werden zu Blei. Doch uns treibt die Vorfreude auf den schönsten Zeltplatz der gesamten Tour. Strútslaug heißt die natürliche Badewanne, die wir an diesem Abend ganz für uns allein haben. Stundenlang entspannen wir im 35 Grad warmen Wasser, das aus einer schwefeligen Quelle in ein Becken sprudelt. Nachts fallen frostige Böen aus den Bergen herab. Da muss die Wollmütze als Schlafmütze herhalten.
Instant-Rührei mit frischem Thymian
Zum Frühstück peppen wir das Instant-Rührei mit frisch gepflücktem Thymian auf, ein Festmahl in der Morgensonne! Dann noch einmal für eine Stunde in den Hot Pot – schließlich steht heute lediglich die fünf Kilometer kurze Etappe zur nächsten Hütte an.
Der nächste Tag führt uns am Gletscherrand durch eine surreale Lavawüste, wie von Dalí gemalt. Dann in einen Landstrich, den wir »Mittelerde« taufen: Schwarzgrüne Berge erheben sich wie Drachenrücken aus der Ebene. Auf einen regnerischen und sechs Grad kalten Nachmittag folgt ein Sturm, der an den Zelten zerrt und schwarzen Sand durch die Belüftungsnetze ins Innere presst. Am Morgen ist der Himmel wieder blankgeblasen. Vom Zeltplatz setzt sich eine kleine Karawane in Bewegung. Wir sind mittlerweile auf den südlichen Teil des Laugavegurs eingebogen und streben mit einem kanadischen Abenteurer-Pärchen, drei spanischen Desperados und einem Trupp junger Isländerinnen in Richtung Þórsmörk. Dieses besonders eindrucksvolle Tal hat so mildes Klima, dass sogar Wald wächst. Unter dem Blätterdach der niedrigen Birken verbringen wir endlich mal eine windstille Nacht.
Ausgeschlafen zur letzten Etappe: 950 Höhenmeter geht es teilweise seilversichert steil hinauf auf einen schneebedeckten Pass, der zwischen zwei endlos weiten Gletschern hindurchführt. Am höchsten Punkt erblicken wir im Süden den Ozean und fallen uns in die Arme. Ziel in Sicht! In sanftem Gefälle senkt sich der Pfad bis auf Meereshöhe und spuckt uns direkt am berühmten Skógafoss aus. Dieser 160 Meter hohe Wasserfall ist über die Küstenstraße leicht zu erreichen, die Touristen kommen busladungsweise. Wir haben’s auf die harte Tour gemacht und sind stolz darauf, genehmigen uns einen isländischen Hot Dog und ein Víking-Bier aus der Dose – willkommen zurück in der Zivilisation!
Dieser Beitrag ist erstmals 2010 im Münchner Merkur erschienen.
Fotos: Dirk Wilhelm | Text: Ingo Wilhelm
TREKKING AUF DEM STRÚTSSTÍGUR/LAUGAVEGUR
Klima/Reisezeit: Die durchschnittliche Höchsttemperatur im Juli liegt in Reykjavík bei etwa 14 Grad. Im Hochland ist es merklich kühler und zudem meist windig. Oft wechselt das Wetter innerhalb von Stunden. Die Monate Juli und August bieten vergleichsweise stabiles Wetter, keine Probleme mit Schnee.
Budget: Wer die Trekking-Mahlzeiten aus Deutschland mitbringt, braucht auf der achttägigen Tour weitere Lebensmittel im Wert von etwa 60 €. Die Zeltgebühr kostet rund 6,50 € pro Person, ein Übernachtung in der Hütte etwa das Dreifache. Die Hochlandbus-Fahrten schlagen mit etwa 120 € zu Buche (Infos: www.re.is).
Ausrüstung: Beim Wandern muss man besonders gut gegen Kälte und Nässe gewappnet sein. Um sich nicht zu verirren, ist ein GPS-Gerät ratsam. Es gibt eine Art Bergwacht, man hat jedoch nicht immer Handy-Empfang. Von Mücken wird man so gut wie nie geplagt.
Transfer: Unseren Transfer zur Sveinstindur-Hütte haben wir über die Geographische Reisegesellschaft organisieren lassen. (500 € für bis zu 6 Personen).
Einfachere Alternative: Der Laugavegur ist eine eindrucksvolle Trekkingtour für ambitionierte Einsteiger und Fortgeschrittene. Er ist mit Pflöcken markiert und führt über vier oder fünf Etappen von Hütte zu Hütte. Alle nötigen Infos dazu enthält das Buch «Island – Trekking-Klassiker« von Erik van de Perre, Conrad-Stein-Verlag.